Donnerstag, 7. April 2016

Das Wunder der Trennung





DAS WUNDER DER TRENNUNG


Immer wieder diese Abschiedsstunde,
wenn wir in der Bahnhofshalle sind:
weltverloren sucht der sehnsuchtswunde
Blick im andern Blick sich, tränenblind.

Wieder lassen wir uns dann entführen,
jeder in ein andres fremdes Land.
Du am Meer, ich im Gebirg': wir spüren
überall einander Hand in Hand.

Was wir immer einsam auch erleben,
hat erst durch den andern Form und Glanz,
an dich denkend will das Glas ich heben,
und mich hält dein Arm beim fernen Tanz.

Siehst mit meinen Augen das Gewimmel
einer südlich bunten Märchenbucht.
Über mir am deutschen Kleinstadthimmel
ist dein Mund des Mondes rote Frucht.

Durch dein offnes Fenster bringt das Rauschen
warmer Nachtflut meinen Liebessang.
Aus dem Winterwinde hört mein Lauschen
hier beseligt deiner Stimme Klang.

Immer haben wir uns so gefunden
über Weltenweiten, Berg und Meer,
und es werden unsre Abschiedsstunden
nur der Blumensteg zur Wiederkehr.


(Max Herrmann-Neisse)








Foto: Alexander Kästel