Sonntag, 28. Juni 2015

Brooklyn Bridge






Brooklyn Bridge

Ich verstehe die Selbstmörder nicht,
die sich nicht von einer Brücke werfen
mit einem Ausblick wie diesem.

Man möchte müde sein und fallen,
so mittendrin und doch allein,
mit sich, der Welt und allem,

was dazugehört. Der richtige Abgang,
der richtige Anzug, die richtige Stunde,
das wird unser letztes großes Kunstwerk sein.

Vielleicht reicht ein Leben nicht aus,
das zu erlernen, wie man kommt
und angemessen geht, leise wie der Wind,

wenn er ein Blatt durch die Luft treibt
und an einer Mauerwand ablegt.
Oder an einem Eisenträger hier,

auf dieser Brücke, auf der die Läufer
mir entgegenkommen, als wäre ich,
weil ich von Glück nichts verstehe,

in falscher Richtung unterwegs. -
Mein toter Freund wollte hier sterben,
mit Blick auf Manhatten. Er verkaufte

sein Haus, verbrannte die Bücher
und steckte alles, was blieb, in den Koffer.
Aber auch seine Metastasen mußten mit

auf die Reise, die nur zwei Straßen weiter
zu Ende für ihn ging, und seine
Brooklyn Bridge war eine nasse Allee

mit faulem Laub im November.
Ich weiß nicht, was er sah
im letzten Moment, aber ich weiß

daß es wichtig ist, am Ende
das Richtige zu sehen. Mein Land
hinter den Bergen, bei den toten

sieben Zwergen, hätte mich fast
und für immer daran gehindert,
diese Orte zu sehen, diese Orte zu denken,

und jetzt tränen mir doch noch
einmal die Augen. Aber wirklich nur
vom kalten, peitschenden Wind.

 
(Kurt Drawert - Idylle, rückwärts)