Donnerstag, 23. Oktober 2014

Ich steh im Finstern...







Ich steh im Finstern und wie erblindet,
weil sich zu Dir mein Blick nicht mehr findet.
Der Tage irres Gedränge ist
ein Vorhang mir nur, dahinter Du bist.
Ich starre drauf hin, ob er sich nicht hebt,
der Vorhang, dahinter mein Leben lebt,
meines Lebens Gehalt, meines Lebens Gebot -
und doch mein Tod


Du schmiegtest Dich an mich, doch nicht zum Hohn,
nur so, wie die formende Hand sich schmiegt an den Ton.
Die Hand mit des Schöpfers Gewalt.
Ihr träumte eine Gestalt -
da wurde sie müde, da ließ sie nach,
da ließ sie mich fallen, und ich zerbrach.


Warst mir die mütterlichste der Frauen,
ein Freund warst Du, wie Männer sind,
ein Weib, so warst Du anzuschauen,
und öfter noch warst Du ein Kind.
Du warst das Zarteste, das mir begegnet,
das Härteste warst Du, damit ich rang.
Du warst das Hohe, das mich gesegnet -
und wurdest der Abgrund, der mich verschlang.



(Rainer Maria Rilke an Lou Andreas-Salomé - 1901)










Foto: Alex und Tim ღ