Sonntag, 15. Juni 2014

BRIEF







BRIEF


Gestern abend ging ich – bitte
frag nicht: warum?  – in die Kirche
im Dorf, hockte mich bibbernd
zwischen die alten Leute
in eine der engen Bänke
und bewegte die Lippen, als hätte ich
mitzureden. Es war ganz leicht.
Schon nach dem ersten Gebet – wir
beteten auch für dich – wuchs mir
die Maske des Guten übers Gesicht.
Vorne pickte der alte Pfarrer,
ohne eine Lösung zu fordern,
wie ein schwarzer Vogel lustlos
im Evangelium, schien aber nichts
zu finden, uns zu verführen.
Kein Leitfaden, kein Trost.
Nach einer Stunde war alles vorbei.
Draußen lag ein unerwartet helles Licht
über dem See, und ein Wind kam auf,
der mich die Unterseite der Blätter sehen ließ.



(Michael Krüger. In: Jahrbuch der Lyrik 1996/97. Herausgegeben von Christoph Buchwald, Michael Buselmeier und Michael Braun. Beck`sche Reihe.)










Foto: Tim Maas